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Michael Lingner

Theorie als Praxisform

Vom "bildnerischen" zum "ästhetischen Denken"

Die aktuelle Ästhetikdiskussion stellt nicht nur die Frage nach der Funktion oder dem Stellenwert des Ästhetischen. Sie fragt auch nach den Erkenntnissen. Wer sich und die Wirklichkeit in Erfahrung bringen will, muß auch die Frage nach Lehre und Lehrbarkeit stellen.

Bis heute werden - vornehmlich in Kunsthochschulen - grundlegende Voraussetzungen von Kunst überwiegend nonverbal und praktisch, auf dem Wege des Vormachens bzw. durch «Nachfolge» tradiert. Schulen und Akademien streben oft genug als Organisationsform für das Lehren und Lernen möglichst individualistische Betreuungs- sowie Meister-Schüler-Verhältnisse an.

Dagegen steht ein anderes nicht minder kunstspezifisches Konzept: Lehren und Lernen lassen sich als Momente eines Kommunikationsprozesses auffassen. Dabei spielt Sprache eine besondere Rolle. Kommunikation über Kunst wird durch die Werke, bzw. deren Produktion initiiert. Adolf Hölzel - Lingners Kronzeuge - steht für solche Lehre.

Lehren und Lernen lassen sich als Momente eines an sich unwahrscheinlichen, im Erfolgsfall aber besonders gelungenen Kommunikationsprozesses auffassen. Welche wesentliche Bedeutung für dessen positiven Verlauf gerade der Sprache zukommt, haben neuerlich die systemtheoretischen Überlegungen zum Kommunikationsbegriff gezeigt (Luhmann 1984, S. 210). In solchen Überlegungen gilt die Wortsprache als einer der leistungsfähigsten Standardisierungsversuche.

Kommunikation braucht Sprache

Der Kunstbereich wird auf dem inzwischen erreichten Stand seiner Autonomie von der Systemtheorie als ein sich selbst reproduzierender, «autopoietischer Funktionszusammenhang» analysiert. Wie etwa das System der Wirtschaft nicht aus Waren, sondern durch Zahlungen besteht, und das Rechtssystem nicht auf Gerichten, sondern auf normativen Erwartungen basiert, so beruht auch das Kunstsystem letztlich auf besonderen Kommunikationen. Da Kommunikation immer ein prozessuales Geschehen ist, können - entgegen der üblichen Erwartung - nicht die Kunstobjekte als die letzten, nicht weiter dekomponierbaren Elemente des Kunstsystems gelten. Den Werken kommt noch die Funktion zu, die Beteiligung an der Kommunikation zu initiieren und zu organisieren, deren Beliebigkeit zu reduzieren und die Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer zu regulieren: «Die Einheit des Kunstwerks liegt ... in seiner Funktion als Kommunikationsprogramm» (Luhmann 1984a, S. 53).

Daß es bei der Kunst in einem wie immer auch verstandenen Sinn auf Kommunikation ankommt und darin ein wesentliches Unterscheidungs- und Qualitätsmerkmal gegenüber anderen Bereichen gesehen wird, entspricht durchaus dem vorherrschenden künstlerischen Selbstverständnis. Um so erstaunlicher ist die nach wie vor zu beobachtende Stilisierung der Kunst zum Refugium sinnlicher Unmittelbarkeit, aus dem Sprache und jedes rationale und begriffliche Denken am liebsten hinauskomplimentiert werden.

Obwohl keine Kommunikation ohne die Aktivierung sprachlicher Kompetenz denkbar ist, wird Kunst weiterhin durch die Sprachferne und Sprachlosigkeit geradezu definiert. Auf dieser Zuschreibung, die sich wie jeder Mythos hartnäckig hält, beruht die anachronistische Auffassung, daß auch das auf Kunst bezogene Lehren und Lernen nicht auf eine sprachabhängige kommunikative, sondern besser auf eine mimetische Weise erfolgen sollte. Grundlegende Voraussetzungen von Kunst werden bis heute überwiegend nonverbal und praktisch, auf dem Wege des Vormachens bzw. durch «Nachfolge» tradiert (vgl. Kant, S. 132 f.). Schulen und Akademien streben als Organisationsform für das Lehren und Lernen im Kunstbereich möglichst individualistische Betreuungs- sowie Meister-Schüler-Verhältnisse an. Es wird auf das produktive Klima, auf die Vorbildlichkeit «ästhetischer Lebensformen» (Otto 1993, S. 18; hier analog zu dem von Otto kritisierten Konzept von Mollenhauers Hinweis auf die «gebildeten Lebensformen» formuliert) gesetzt und damit das, was sich nur personenabhängig im Lernprozeß bestenfalls erst entwickeln kann, zu dessen programmatischer Voraussetzung gemacht. Statt offener Kommunikationsstrukturen, statt der Bereitschaft zu kontroversen Diskursen ist ein Geflecht von Abhängigkeiten institutionalisiert worden, das Konformität fördert.

Fachimmanenz und Erfahrungsferne verfehlen das Künstlerische

Zwar wird das Mimetische kaum mehr derart zur Maxime erhoben, daß es noch ein direktes Hineinkorrigieren in Schülerarbeiten gibt. Aber das gern gepflegte «Hineinreden» unterscheidet sich davon nur graduell. Denn Sprache wird überwiegend deskriptiv, nicht selten präskriptiv und apodiktisch, also in einer bloß beispielbezogenen, hinweisenden und wertenden Weise gebraucht, ohne sich der Anstrengung begrifflicher Begründung und Verallgemeinerung zu unterziehen. Wo beides dann aber doch vor allem bei der rezeptiven Beschäftigung mit Kunst aufgeboten wird, wird diese allzuoft statt als Erfahrungs- als ein reiner Erkenntnisgegenstand behandelt. Bestimmter universitärer Einzeldisziplinen sich bedienend, werden die Werke mit deren jeweiligen Problemstellungen überformt und mit den entsprechenden wissenschaftlichen Methoden untersucht. Je fachimmanenter und erfahrungsferner dabei vorgegangen wird, um so weniger treffen solche theoretischen, ebenso wie die allzu lebenspraktisch interessierten Erklärungs- und Deutungsversuche, noch den Kern des Künstlerischen. Die wissenschaftliche Kunstrezeption ignoriert ebenso leicht die spezifisch «ästhetische Rationalität» (vgl. Otto 1991), wie das künstlerische Schaffen dazu neigt, das Emotionale und Irrationale zu verabsolutieren.

«Das Ästhetische ... als ein anderes zur Rationalität oder (durch) einen anders konstruierten Gegensatz» zu bestimmen, statt «es als Moment der Wissenschaft, der Technik und nicht zuletzt der Rationalität zu analysieren», gilt inzwischen als Ausweis einer «schlichten Denkart» (Rötzer, S. 8 f.). Zweifellos findet sich genügend Aufklärung darüber, daß Kunst und ihre Erfahrung in der Moderne einen «immer wieder durchzuhaltenden Balanceakt zwischen Anschauung und Begriff, Wahrnehmung und Reflexion» erfordert, so daß «das Gegenüber von Begriff und Anschauung, von sinnlicher Unmittelbarkeit und Erkenntnis versagen» (Otto 1993, S. 17) muß. Gleichwohl bleiben für die künstlerische und kunstpädagogische Praxis Aussagen solcherart nach wie vor weitgehend folgenlos.

Adolf Hölzels Praxis als Gegenargument

Dabei läßt sich sehr konkret zeigen, daß am Anfang des 20. Jahrhunderts die Kunstpraxis mit den ihr eigenen Mitteln sich selbst der Sprache bemächtigt hat. Bei dem inzwischen als Klassiker der modernen Malerei anerkannten Adolf Hölzel (1853 - 1934) ist die künstlerische Methode, mit der das Bildnerische bis zur begrifflichen Abstraktheit getrieben wurde, auf exemplarische Weise zu studieren. Dieser Entwicklungsprozeß, aus dem sein kunstpädagogisches Konzept eines «künstlerischen Elementarunterrichts» hervorgegangen ist, soll einerseits als gleichsam unverdächtiges, da aus der Kunst stammendes, überzeugenderes Argument dafür dienen, «daß auch ästhetische Erfahrungsprozesse kognitive Strukturen haben» (Otto 1993, S. 18) und zugleich ein Beispiel sein, wie sich diese in die Praxis integrieren lassen. Darüber hinaus ermöglicht die von Hölzel ausgehende historische Rekonstruktion der Genese des «bildnerischen» bzw. «künstlerischen Denkens» es, eine Perspektive für die Richtung des gegenwärtigen Denkens in der Kunst zu gewinnen.

Hölzels Bedeutung wurde zunächst in seiner überragenden Befähigung als Lehrer (etwa von Baumeister, Itten, Schlemmer) sowie in seiner außergewöhnlichen Begabung als Künstlertheoretiker gesehen, dessen Farb- und Kompositionslehre große Wirkung hatte. Für Hölzel selbst war freilich bei allem pädagogischen Engagement der eigentliche Mittelpunkt seiner Arbeit das künstlerische Schaffen, wobei er sich erstaunlicherweise auch dessen rein manueller Seite intensiv widmete. So begann er über Jahrzehnte sein künstlerisches Tagewerk mit «handlichen Übungen», den «täglichen tausend Strichen» (Hölzel, TN), die er mit Pinsel, Feder oder Stift zumeist auf altem Papier ausführte, um sich und seine Mittel zu vervollkommnen. Indes diente dies von ihm mit den Fingerübungen eines Musikers verglichene Training keineswegs bloß zur technischen Perfektionierung. Vielmehr bildete es in vielfältiger Weise die Grundlage und gleichsam das Herzstück seiner Kunst: Sowohl seine praktische Arbeit als Künstler und Lehrer sowie überraschenderweise auch sein Theoretisieren haben in dieser schlichten Schulung ihren gemeinsamen und eigentlichen Ursprung.

Adolf Hölzels Exerzitien

Die anfänglich nur in der Absicht manueller Ausbildung betriebenen Hölzels bestanden aus gleichmäßigen parallelen, rhythmischen Schwingungen der ein Zeichengerät haltenden Hand. Dabei kam es ihm darauf an, die Bewegungen möglichst organisch in Übereinstimmung mit seiner Anatomie auszuführen. Daß «diese dem Menschen innewohnenden Verhältnisse ... der Hand und dem Empfinden nahe» (Venzmer, S. 96) stehen, gab Hölzel die Gewißheit, mit den zeichnerischen Übungen «das Seelische der Hand» und damit auch «ganz und gar (das Persönliche) zum Ausdruck bringen» (Hölzel 1980, S. 22) zu können. Darin sah er auch die gleichsam karthatische Funktion begründet, die das Zeichnen für ihn hatte: «Es sammelt sich ... zweifellos im Menschen täglich eine Summe geistiger Gifte an, die man ... unbedingt wieder aus seinem Körper heraustun muß, will man wieder gut und fröhlich sein ... Wenn ich mich befreien will von allen weltlichen, auch schmerzhaften und boshaften Gedanken, dann beginne ich mit meinen Übungen. Und da ist es bald, als löse sich das Irdische ab und nur künstlerische Gedanken quellen hervor ... Ich empfehle dieses tägliche geistige Bad» (Venzmer, S. 95).

Aus den unwillkürlichen, kreisenden Zeichenbewegungen, aus dem kontinuierlichen Fluß der Feder entstanden fast beiläufig erstaunliche Blätter. Schon vor 1900 verdichteten sich die Liniengefüge zu «abstrakten Ornamenten» (Hölzel, TN). Diese oft in Verbindung mit geschriebenen Wörtern stehenden ornamentalen Zeichnungen waren zunächst noch jugendstilartig zum Teil aus Buchstaben abgeleitet. Doch bald entwickelten sich daraus infolge einer Dekonstruktion des Ornamentalen autonome künstlerische Kompositionen. Durch frei gesetzte, auf keine bestimmten Zeichen oder Bedeutungen fixierte Formen, die nicht isoliert für sich stehen, sondern auf das gesamte Blatt bezogen sind, entstand eine über jede koventionelle kalligraphische Gestaltung hinausgehende Bildhaftigkeit. Damit begann Hölzel sich von der gegenständlichen Darstellung zu lösen und leitete - vor Kandinsky - die «Epoche des großen Geistigen» in der Kunst des 20. Jahrhunderts ein.

Spätestens 1905 mit der «Komposition in Rot» gelingt Hölzel der endgültige Durchbruch zur künstlerischen Abstraktion. Er spricht dem Gegenstand seine einstige «harmoniebildende» Funktion und damit eine Notwendigkeit für die formale Organisation des Bildes ab; im Gegenteil: Das Bild selbst «stellt ... Forderungen, die aus der Natur im landläufigen Sinn nicht ableitbar sind» (Hölzel 1953 o. S.). Bei der Auseinandersetzung mit dem sich daraus ergebenden Problem, den Gegenstand als bisher wichtigstes kompositionelles Strukturelement zu ersetzen, haben sich die zeichnerischen «Morgenübungen» Hölzels erneut als überaus fruchtbar erwiesen.

Auf dem Weg zum Konzept

Für den Aufbau seiner abstrakten Bilder spielte es eine entscheidende Rolle, daß er seine Präludien vor allem auf gebrauchtem, bereits bedrucktem oder beschriebenem, Papier ausführte. So ergab sich ein Liniengewirr aus zahllosen zufälligen Überschneidungen, in dem er mit Hilfe von Transparentpapier und Durchpausverfahren Vereinfachungen und Akzentuierungen vornahm. Auf diese Weise entstanden die vielgestaltigen, von ihm als «Konzepte» bezeichneten konstruktiven Gerüste, die all seinen abstrakten Bildkompositionen zugrunde liegen. - Wo indes die von ihm selbst so genannten «Kritzeleien» eine besondere Intensität erreichten und unverändert stehenblieben, zeigen sich bereits deutliche Anklänge an das später zum wesentlichen Merkmal des Surrealismus gewordene «automatische Schreiben». Hölzel berichtet selbst von seiner «seit Jahren ... als wunderlich verschrieenen Gewohnheit, beim Durchdenken einer Sache oder beim Versenken in eine Stimmung, den rhythmischen Vorgang in sich durch ... gezeichnete Linien zu begleiten» (Roeßler S. 79). Dieses «automatische Schreiben» liegt in seiner späten Malerei latent zugrunde und erklärt deren erstaunliche Nähe zu informellen und tachistischen Bildern, in denen erst etwa vierzig Jahre später sich jene ursprüngliche literarische Idee des Surrealismus malerisch adäquat konkretisierte.

Obwohl Hölzels Exerzitien das Tor zum Unbewußten öffnen und oftmals sogar in surreal anmutende Figurationen übergehen, so sind sie gleichermaßen immer wieder auch Ausgangspunkt bewußter und rationaler künstlerischer Äußerungen: Während sich die Hand zumeist zeilenweise über das Blatt bewegte, gingen die frei kreisenden Linienschwünge oft in eine regelrechte Schreibbewegung über, die sich aber auch wieder ins Zeichnerische auflösen konnte. Hölzel hat diesen Prozeß, in dem Buchstaben sich bildeten und sogar zu vollständigen zusammenhängenden Wörtern und Aussagen formierten, selbst genau beschrieben: «Weiter gleitet die Feder, nicht wie Du willst, sondern wie sie mag, oft weiter als Du es ahnst, und es entstehen ganze Wortgebilde, von denen Du nicht weißt, wer und was sie sind, bis ein Wort zündet und Deinen Geist leitet in andere Regionen ... So kann es dann sein, daß Sätze sich bilden ... Es ist eine Dichtung auch in der Prosa, die mehr dem Gefühl entspringt als verstandesmäßiger Überlegung» (Venzmer, S. 97).

So verfügt Hölzel mit den zeichnerischen Exerzitien über das Medium, das ihm einen gleitenden Übergang zwischen der Poesie zeichnerischer Formung und der Prosa begrifflichen Denkens ermöglicht. Zusammen mit den «täglichen tausend Strichen» gehörte es bald auch zu Hölzels künstlerischem Tagewerk, zugleich seine Reflexionen über bildnerische Phänomene aufzuzeichnen. Aus ihnen besteht im wesentlichen sein «Theoretischer Nachlaß», bei dem es sich insofern - trotz aller kunsttheoretischen und -pädagogischen Substanz - nicht im herkömmlichen Sinne um eine Theorie oder gar Lehre handelt, sondern um eine ganz eigene, andersartige Ausformung künstlerischer Praxis. Beide einer Grundlegung des Künstlerischen dienenden Praktiken Hölzels, die mehr manuelle und die eher theoretische, befördern sich gegenseitig und finden in den bemerkenswerten «Zeichnungen mit Schriftsockel» sogar zu einer besonderen Form.

Ästhetische Theorie und künstlerische Praxis als Einheit

Das künstlerische Reflektieren und Theoretisieren vollziehen sich nicht mehr außerhalb des Bildwerkes, sondern ästhetische Theorie und künstlerische Praxis sind untrennbar geworden. Hölzels Arbeit zeichnet eine jederzeit mögliche, latente wechselseitige Transformierbarkeit von Bild- und Schriftzeichen aus. Seinen linear gebauten Bildern wohnt eine Struktur der Lesbarkeit inne, wie umgekehrt der kalligraphische Charakter seinen Texten Anschaulichkeit verbürgt. Gleichwohl gibt es eine gewisse Priorität. Als Fundament moderner Malerei hält Hölzel das Vorhandensein eines «Bildbegriffs» für unabdingbar und fordert, dem Schaffen «das notwendige Intellektuale vorhergehen» (Hess, S. 112) zu lassen. Sein in diesem Sinn um die Erforschung der «künstlerischen Mittel» kreisendes Theoretisieren ist Ausdruck der bereits mit der Romantik einsetzenden, um 1910 eine neue Phase erreichenden «Konzeptionalisierung» (vgl. Lingner 1990) der Kunst. Für die damit einhergehende künstlerische Praxis, bei der das bildnerische Gestalten vom begrifflichen Denken nicht nur abhängig ist, sondern es ganz und gar in sich aufnimmt, hat Paul Klee die treffliche, an sich paradoxe Formulierung «Bildnerisches Denken» geprägt. Es hat in Hölzels zwischen Text- und Bildzeichen oszillierenden zeichnerischen und sprachlichen Exerzitien einen authentischen, unmittelbar ablesbaren Ausdruck gefunden.

Angesichts der abstrakten und damit dem Begrifflichen ähnlicher gewordenen Malerei hat sich Daniel Henry Kahnweiler als wichtigster Förderer und erster Theoretiker dieser «peinture conceptuelle» überzeugt gezeigt, «daß die bildenden Künste nie mehr zur optischen Nachahmung der Außenwelt zurückkehren», sondern «ihr sich immer deutlicher verwirklichen werde» (nach Gehlen, S. 75). Ebenso zwangsläufig verliert mit dem zugleich aufgekommenen «bildnerischen Denken» das mimetische Lernen im einstigen Verständnis, wie es sich an den Kunstschulen in den verschiedensten Formen über Jahrhunderte ausgeprägt hat, seine Berechtigung. Denn im Unterschied zur Handwerklichkeit, auf der die Kunst zuvor gefußt hat, entzieht sich prinzipiell jeder Denkprozeß, und sei es auch ein bildnerischer, der direkten Nachahmung. Darum verwarfen Hölzel und die Bauhäusler den mimetischen Ausbildungskanon als akademisch antiquiert.

Die Unmöglichkeit des mimetischen Lehrens und Lernens, aber auch die Unangemessenheit der dem «bildnerischen Denken» noch mehr oder minder ungebrochen anhängenden «Grundlehren», wird in den 60er Jahren durch die Conceptual art offensichtlich. Ihre begriffliche Orientierung ist insofern noch weitergehend und von neuer Qualität, da sie sich von vornherein und völlig auf das «Ausarbeiten und Durchdenken sämtlicher Implikationen des Begriffs Kunst» (Kosuth 1972, S. 105) konzentriert. Davon ausgehend, daß etwas letztlich aufgrund begrifflicher Bestimmungen und nicht wegen formaler Eigenschaften als Kunst gilt, betreibt Conceptual art die Bildung des Kunstbegriffs selbst und überläßt ihre kommunikative Vermittlung nicht mehr kunstexternen Instanzen wie der Kunstkritik. Als Konsequenz daraus konstatierte Joseph Kosuth, daß die philosophische Frage nach dem «Warum» von Kunst, nicht ihr «Wie» entscheidend sei. So sieht er als Möglichkeit «für Kunsthochschulen ... ebenso wie für die Kunst nur ein Verfahren: das Verfahren der Infragestellung der Beschaffenheit von Kunst». Darum ist «das, was gelernt werden muß, ... ein Denkprozeß und nicht ein handwerkliches oder theoretisches Dogma» (Kosuth 1992, S. 10 f.).

Das Theoretische als neuer Ausgangspunkt der Praxis

Spätestens seit dem Erreichen dieses Standes der Konzeptionalisierung kommen die Kunst und das sich ihr widmende Lehren und Lernen nicht ohne ein weit mehr philosophisches, begriffliches Denken aus, als es noch das «bildnerische» war. Um auf diesem weit abstrakteren Niveau dennoch eine genügend große Affinität zwischen dem Denken und der Kunst zu erzeugen, ist ein grundlegender Wandel der bisherigen Formen und Begriffe philosophierenden Denkens und künstlerischen Schaffens notwendig. Die für seine Zeit unvergleichlich weit vorangetriebene Integration von Theorie und Praxis hat Hölzel durch eine «Intellektualisierung des Ästhetischen» (Jähnig, S. 14) noch auf eine praktische Weise erreichen können. Zweifellos wird nach der Conceptual art der Ausgangspunkt künstlerischer Produktion und Rezeption ein theoretischer sein müssen.

Die nun anzuwendenden Strategien, um Formen des Theoretisierens zu entwickeln, die künstlerisch kompatibel sind, lassen sich als «Ästhetisierung des Denkens» (Jähnig, S. 14) oder noch darüber hinausgehend als «ästhetisches Denken» (vgl. Welsch 1990) umschreiben. Dabei geht es konkret um die Ausbildung künstlerischer Haltungen und Verfahrensweisen theoretischen Arbeitens. Damit begriffliches Denken für die Kunstproduktion, -rezeption und -vermittlung überhaupt auf eine adäquate Weise produktiv werden kann, bedarf es im weitesten Sinn ästhetisch organisierter, also der sinnlichen Wahrnehmung verpflichteter Formen der Schriftlichkeit. An diesem Projekt zu arbeiten, ist über die Kunst hinaus von Bedeutung, da auch die Wissenschaft an transdiskursiven Textformen zunehmend interessiert ist. Dem liegt das gewachsene Bewußtsein von einer Krise der Diskursivität zugrunde. Vor allem die mit der erkannten Unzulänglichkeit linearer Kausalitätsvorstellungen einhergehende Relativierung bisheriger Wahrheitsbegriffe sowie das massenmedial veränderte Rezeptions- und Motivationsvermögen stellen auch das wissenschaftliche Theoretisieren vor ein Formproblem. Insofern Formfragen originär künstlerischer Natur sind, tendiert - besonders im Gefolge Nietzsches - auch die (geistes-)wissenschaftliche Theorie zur Ästhetisierung. Dabei verfällt allerdings die postmoderne Wissenschaft bisher ebensosehr nur auf verbrauchte Muster der Literarisierung und Poetisierung wie sich die postmoderne Kunst oft bloß pseudowissenschaftlich geriert. Um dem zu entgehen, «muß die Kunst die Reflexion sich einverleiben und so weit treiben, daß sie nicht länger als ein ... Äußerliches, Fremdes über ihr schwebt; das heißt heute Ästhetik» (Adorno, S. 507). In diesem Sinn an einer Gestalt von Ästhetik zu arbeiten, die weder der überkommenen philosophischen noch der bisherigen künstlerischen Ästhetik gleicht, verlangt mehr nach einer Kunst der Vermittlung als nach der Vermittlung der Kunst.


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