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Michael Lingner

Kunst kraft Kommunikation

Am Anfang des 19. Jahrhunderts befreite sich die Kunst aus ihren kirchlichen, höfischen und ständischen Funktionszusammenhängen. Die Produktion und Rezeption von Kunst zog sich aus dem öffentlichen Leben in die Abgeschiedenheit der Ateliers und Museen zurück. Autonome Kunst hatte nur ganz spezielle Orte, an denen sie sich ereignen konnte. Die als "White Cubes" eingerichteten Ausstellungsräume dienten nicht nur zur Abschirmung gegen außerkünstlerische Einflüsse, sondern hatten auch die Funktion, die einzelnen Werke weitestmöglich voneinander zu isolieren.

Inzwischen existiert der Gegensatz zwischen Kunst und Gesellschaft in seiner alten Form nicht mehr. Die Kunst ist zu einem eigenständigen sozialen System geworden. Heute ist die Gesellschaftsferne der Kunst, ihr Versuch, sich der Gesellschaft gegenüber zu verselbständigen, rein illusionär. Kunst kann ihre Eigenart nur noch durch Verselbständigung innerhalb der Gesellschaft ausbilden und entfalten. Die Entstehung des Künstlerischen muß darum in die gesellschaftliche Kommunikation verlagert werden: Kunst lebt heute nicht mehr in den Werken, sondern durch die Kommunikation über die Produktionen, die Werke genannt werden.

Dem Kunstwerk kommt dann die Funktion zu, Kommunikation zu initiieren, in Gang zu halten und ihr einen gemeinsamen Objektbezug zu geben. So organisiert das Werk die Beteiligung an der Kommunikation, reduziert deren Beliebigkeit und reguliert die Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer. Für das dauernde Geschehen von Kommunikation als Voraussetzung des Fortbestandes der Kunst sind Werke notwendig. Indes - so Niklas Luhmann - gibt es Kunstwerke nur, "wenn und soweit mit Möglichkeiten der Kommunikation über sie gerechnet werden kann". Insofern muß in der Kunst "nur noch Kommunikation funktionieren", während "alles weitere in den zweiten Rang einer dafür notwendigen Bedingung versetzt wird". Zu diesen Bedingungsmomenten kann auch das künstlerische Material gehören, wenn es hin auf die Ermöglichung von Kommunikation organisiert wird. Allein sie, nicht das Material, sind eigentliche Träger des Künstlerischen: Die künstlerische Qualität ist somit abhängig von der Qualität der Kommunikationen und darum, statt nur mehr vom Künstler, von allen Kommunikationsteilnehmern zu verantworten.

Wenn das Kunstwerk als Programm von Kommunikationen funktionieren soll, muß seine extreme Selbstbezüglichkeit, wie sie für die autonome Avantgardekunst bestimmend war, in ihrer Zirkelhaftigkeit durchbrochen werden. Künstler versuchen das, indem sie ihre Hervorbringungen nicht nur im Kunstkontext reflektieren. Sie verlassen das imaginäre Museum und gehen auf die realen Voraussetzungen ein, unter denen ihr Produkt als Kunst erscheinen kann. Die Arbeiten werden in einer spezifischen Bezogenheit etwa auf Orte, Situationen oder Personen hin konzipiert. Durch diese Fremdreferenzen überwinden sie ihre Hermetik und bieten Anknüpfungspunkte für Kommunikationen.

In Ausstellungssituationen gehören zu den entscheidenden realen Bezugsgrößen eines Werkes die es umgebenden anderen Werke. Soll Kommunikation über die Werke gelingen, bedarf es der Kommunikation zwischen ihnen. Die Ausbildung spezifischer Beziehungen unter den Werken verlangt von diesen und den Künstlern ein hohes Maß an Offenheit. Kommunikative, transautonome Werke können nur gemeinsam im Prozeß der künstlerischen Kommunikation zwischen den Beteiligten entstehen, was von Produzenten und Publikum ein völlig neues Verständnis von künstlerischer Arbeit erfordert. Dabei geht die Form der Werke aus der Form hervor, welche die Künstler für ihre interne Kommunikation finden. So werden letztlich Kommunikationsformen ausgestellt, die ein systemisches Zusammenwirken der für Kunst entscheidenden Faktoren leisten sollen.

Ich schlage vor, die künstlerischen Arbeiten so zu betrachten, als ob sie die Frage thematisierten: Wie ist Kunst möglich, wenn es keinen direkten Kontakt zwischen Materie und Bewußtsein, noch zwischen verschiedenen Bewußtseinssystemen gibt, sondern nur Beobachtung und Teilnahme an Kommunikation?


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