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Michael Lingner

Erfundene Funktionalität

Strategien ästhetischen Handelns I: Siah Armajani

Siah Armajani, 1939 in Persien geboren, lebt seit 1960 in den USA und schloß dort 1963 sein Philosophie- und Mathematikstudium ab. Als Künstler trat er ab 1970 zunächst mit computerberechneten Architekturutopien im Kontext der «Konzeptkunst» in Erscheinung. Der konzeptuelle Hintergrund ist für das Verständnis der weiteren künstlerischen Entwicklung und der heutigen Bedeutung von Armajani besonders aufschlußreich. Darum sei kurz der historische Zusammenhang und die Argumentation der «Konzeptkunst» vergegenwärtigt (vgl. de Vries 1974).

Bereits in der deutschen Frühromantik schied die Kunst aufgrund ihrer Befreiung aus den religiösen und feudalen Funktionszusammenhängen endgültig «aus dem Kreis der aus» (Warnke 1987, S. 29). Alles, was Kunst sein und werden will, muß sie seitdem völlig aus sich heraus und zweckfrei bestimmen. Aus dieser Notwendigkeit der autonomen Kunst zur Selbstdefinition hat die Konzeptkunst weitgehende Konsequenzen gezogen:

Anders als der ihr vorangegangenen Avantgardekunst geht es der Konzeptkunst nicht primär um ästhetische Erscheinungsformen/i>. Sie setzt vielmehr voraus, daß ein Objekt grundsätzlich nicht wegen formaler Eigenschaften, sondern aufgrund begrifflicher Bestimmungen als Kunst gilt. Statt dies einer gesellschaftlichen Instanz wie der Kunstkritik zu überlassen, begreift es die Konzeptkunst als ihre Aufgabe, den Kunstbegriff selbstbestimmt zu definieren und konzentriert ihre künstlerische Praxis auf das «Ausarbeiten und Durchdenken sämtlicher Implikationen des Begriffs Kunst» (Kosuth 1972, S. 105).

Indem die Konzeptkunst zu einer tautologischen Definition von Kunst kommt: «Kunst als Kunst ist nichts als Kunst» (Reinhardt 1974, S. 141), erreicht sie den absoluten Höhepunkt der Kunstautonomie in der Moderne. Zu deren Überwindung ist die Postmoderne angetreten, die indes mit der neu gewonnenen Freiheit des «anything goes» (Feyerabend 1976, S. 35) dem Mechanismus der Mode zu verfallen droht.

Doch auch diejenige Kunst, welche die große Tradition der Moderne nicht preisgeben möchte, kann nun nicht mehr in der eigengesetzlichen Entwicklung ihren eigentlichen Zweck sehen. Denn die daraus resultierende extreme Selbstbezüglichkeit der Kunst ist zurecht als Endpunkt ihrer autonomen Entwicklung diagnostiziert worden. Ist die Kunst im Prozeß ihrer ästhetischen Autonomisierung (d. h. in ihrer Abstrahierung, Subjektivierung, Hermetisierung, Entmaterialisierung etc.) an ein definitives Ende gekommen, benötigt sie außerhalb ihrer selbst liegende Zwecke und Funktionen, in denen sie Bestimmungsgründe zur Fortexistenz und Weiterentwicklung finden kann (Lingner / Walther 1984). Um dennoch nicht an Autonomie zu verlieren, muß sie außerkünstlerische, gesellschaftliche Zwecke und Funktionen selbstbestimmt setzen. Somit sieht sich die Kunst der Notwendigkeit gegenüber, mögliche, künstlerisch zu erfüllende Funktionen zu erfinden oder sich bereits vorhandene anzueignen.

Die nachkonzeptuellen Arbeiten von Siah Armajani können in diesem Sinne als ein Versuch gesehen werden, die Zweckfreiheit der Kunst, nicht aber ihre Freiheit aufzugeben. Das bedeutet, Autonomie nicht länger gegen die Gesellschaft, sondern innerhalb dieser zu verwirklichen. - 1974 beginnt Armajani an seinem «Dictionary for Building» zu arbeiten, das aus mehr als eintausend kleinen Kartonmodellen besteht. Maßstabsgerecht werden verschiedene architektonische Elemente wie Fenster, Türen, Treppen, Wände und Decken funktionsunabhängig aufeinander bezogen. Nach diesem dekonstruktiven Prinzip entstehen skulpturale Ensembles, die in ihrer Gesamtheit einen Katalog der Kombinierbarkeit verschiedenster baulicher Formen und Bedingungen bilden. Teile hieraus vergrößert Armajani zu Innenraum-Skulpturen, um die in den Modellskizzen entwickelten Ideen präziser überprüfen zu können. 1986 schließt er diesen Arbeitskomplex mit den «Elements» ab, in denen die gegenständlichen Architekturelemente ihre starke Zeichenhaftigkeit und ihren skulpturalen Charakter noch deutlicher ausprägen.

Über den skulpturalen Eigenwert hinaus dienen die experimentellen architektonischen Untersuchungen Armajani vor allem als Erfahrungspotential und Instrumentarium zur Realisierung seiner Projekte im öffentlichen Raum, die den Kern seiner Arbeit bilden. Im Unterschied zu den meisten modernen Künstlern empfindet er keinesfalls jeden «öffentliche(n) Anspruch an das Kunstwerk (als) eine Zumutung» (Warnke 1987, S. 25), da es ihm nicht um die Fortführung der eigengesetzlichen, autonomen Kunstproduktion geht. Vielmehr läßt sich Armajani mit seiner Arbeit auf die Öffentlichkeit und ganz spezielle Orte innerhalb dieser ein. Er zielt auf eine «ästhetische, soziale, kommunikative und funktionale Bedeutung» (Ammann 1987, o. S.), d. h. auf den Gebrauch seiner Werke. Er plädiert programmatisch für eine Kontext-, Funktions- und Publikumsorientierung der Kunst: «Öffentliche Kunst sollte dazu beitragen, das Konzept der Kreativität zu entmystifizieren ... Die Vorstellung, daß der Schöpfer und Gestalter öffentlicher Räume nur ein Künstlerindividuum sein könne, ist irreführend und falsch ... Das unmittelbare Anliegen öffentlicher Kunst ist nicht primär eine künstlerische Frage, sondern die Aufgabe, die das Werk zu erfüllen hat. Es sollte offen sein, verfügbar, nützlich, vertraut und zugänglich. Indem seine Nützlichkeit hervorgehoben wird, wird das öffentliche Kunstwerk zu einem Instrument für Tätigkeiten - sitzen, gehen, essen, sprechen ...» (Armajani 1987, o. S.).

Armajani begreift es als seine künstlerische Aufgabe beispielsweise Brücken, Lesehäuser und -gärten, Garteninstallationen, Kioske und Konzertpavillons zu bauen oder sich der Einrichtung von Aufenthalts- und Vortragsräumen zu widmen. Um dem Publikum das ästhetische Handeln zu ermöglichen, reagiert er bevorzugt auf funktional unterbestimmte Situationen und Örtlichkeiten, die gleichwohl eine außerordentliche soziale Bedeutung haben, da sie Konzentrationspunkte kommunikativen Verhaltens sind. Während die gegenständliche Ausgestaltung dort normalerweise völlig unspezifisch und von neutraler, funktionalistischer Kälte ist, beschäftigt sich Armajani damit, wie Gehen, Sitzen, Warten, Lesen in einem bestimmten funktionalen und räumlichen Zusammenhang beschaffen sein sollte. Er erfindet diese Handlungen zusammen mit einer ihm dafür adäquat erscheinenden Gegenstandswelt gleichsam neu, indem er in erprobter Weise dekonstruktiv vorgeht: Eine Grundsituation wird in ihre Bestandteile zerlegt und diese werden dann nach den jeweiligen objektiven Gegebenheiten und subjektiven Absichten andersartig interpretiert und neu auf eine gleichsam poetisierende Weise zusammengesetzt. So brachte Armajani beim Bau eines Lesehauses zuerst die Bänke und Lesetische auf die Baustelle, um danach über die Fenster zu entscheiden und die Wände zu errichten.

Durch das Von-innen-nach-außen-Bauen kommt - in Abwandlung eines Heidegger-Zitates - ein Bau nicht erst an einem Ort hin zu stehen, sondern von dem Bau selbst her und seinem Gebrauch entsteht erst ein Ort (vgl. Heidegger 1954, S. 20). Indem Armajani in seinen Projekten die bloß funktionalistisch kalkulierte Zweckdienlichkeit durch einen anthropozentrisch gedachten Gebrauchswert zu ersetzen vermag, hebt er die überkommene Unterscheidung zwischen den schönen und den angewandten Künsten auf.

Anmerkungen

Ammann, J.-C. zit. in Armajani, 1987

Armajani, Siah: Katalog zur Ausstellung der Kunsthalle Basel und des Stedelijk Museum Amsterdam. Basel 1987.

Weitere Informationen zu S. Armajani: siehe u. a. Kataloge der documenta 7+8, der Biennale Venedig 1980, der Skulptur Projekte Münster 1987 Feyerabend, P.: Wider den Methodenzwang. Frankfurt 1976 Heidegger, M.: Bauen Wohnen Denken. In: Vorträge und Aufsätze Teil II. Pfullingen 1954

Kosuth, J.: Einige Bemerkungen des amerikanischen Redakteurs. In: Art & Language. Texte zum Phänomen Kunst und Sprache. Hg.: P. Maenz / G. de Vries. Köln 1972

Lingner, M. / Walther, R.: Paradoxien künstlerischer Praxis. Die Aufhebung der Autonomie des Ästhetischen durch die Finalisierung der Kunst. In: Kunstforum International 76, 1984 Reinhardt, A. zit. in de Vries 1974

de Vries, G. (Hg.): Über Kunst. Künstlertexte zum veränderten Selbstverständnis nach 1965. Köln 1974. Die bislang beste deutschsprachige Sammlung von Texten der wichtigsten Konzeptkünstler Warnke, M.: Kunst unter Verweigerungspflicht. In Katalog: Kunst im öffentlichen Raum. Skulpturenboulevard Kurfürstendamm. Berlin 1987


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