ask23 > Lingner: Die ARTGENDA als Aufgabe

Michael Lingner

Die ARTGENDA als Aufgabe

Zur Überwindung willkürlicher Kunstrichterei im künstlerischen Ausstellungs- und Förderungswesen

I )

DAS PROBLEM: Die Qual der WAHL

Sobald Kunst nicht mehr für einen Auftraggeber, sondern für ein anonymes Publikum geschaffen wird, haben sich alle Hervorbringungen künstlerischer Praxis nach ihrer Fertigstellung einer gleichsam existentiellen Bewährungsprobe zu unterziehen. Erst nach deren Bestehen, können die Werke ihrer privaten Produktionssphäre entwachsen und fortan als Kunst öffentliche Geltung erlangen. Erst durch Auswahlprozesse, wie sie etwa von Jurys, Kuratoren und anderen Instanzen durchgeführt werden, wird die Kunst zur Kunst gleichsam geadelt. Erstaunlicherweise kommt dieser ebenso wesentliche wie problematische Umstand im Kunstdiskurs kaum zur Sprache.

Bei solchen Konkurrenzen, die der Autor aus seinen eigenen Erfahrungen als Opfer wie als Täter gut kennt, geht es also nur vordergründig um Geld. Vielmehr wird neben der Anerkennung das im Kulturbereich allerknappste Gut vergeben: Die Aufmerksamkeit. Ebendiese Zuwendung ist für jedwede Erfahrung, Beurteilung, Liebhaberei oder gar Kennerschaft von Kunst eine unabdingbare Voraussetzung und damit auch unerlässlich für die damit einhergehenden Kommunikationen, von denen die Fortsetzbarkeit des Kunstsystems abhängig ist. Trotz dieser eminenten Bedeutung wird das Faktum, dass es erst recht im Kunstsystem keinen Verzicht auf Auswahlprozesse gibt, von allen Beteiligten gern ignoriert, tabuisiert, bagatellisiert oder ironisiert.

Obwohl oder gerade weil letztlich Existenzchancen von Künstlern und der Kunst auf dem Spiel stehen, wird das Jurieren oder Kuratieren oft genug nach Art der Waldorf-Rhetorik auch als "Moderationsprozess" oder "Resonanzphänomen" verklärt. Doch nüchtern betrachtet handelt es sich bei derartigen Auswahlprozessen eindeutig um Selektionen. Dieser Begriff ist von der soziologischen Systemtheorie aus der Biologie übernommen worden, um dem aktuellen Erkenntnisstand gerecht zu werden, nach welchem sich auch die Entwicklung von Kunst und Kultur wie ein Evolutionsprozess auffassen lässt. Das mit dieser Betrachtungsweise unweigerlich assoziierte darwinistische "survival of the fittest" ist für den kulturellen Kontext jedoch gerade nicht zutreffend, so dass dort die gegen den Selektionsbegriff gehegten Vorbehalte bloße Vorurteile sind.

Mehr Autonomie in künstlerischen Auswahlprozessen ? Einen Versuch ist es wert.

Dass die Entwicklungsmöglichkeiten des Kunstsystems wie der darin (re)agierenden Personen weitgehend abhängig von Selektionen sind, hat Künstler diese Grundoperation bereits am Beginn der Moderne als eine spezielle gestalterische Verfahrensweise entdecken und anwenden lassen. Die Behauptung, dass Kunst aus einem speziellen Zugriff auf die Angebote der Welt entstehen kann, hat sich gegen die auch heute noch verbreitete illusionäre Vorstellung gerichtet, künstlerische Praxis sei als eine "creatio ex nihilo" möglich. So gehen etwa die "ready-mades" von DUCHAMP ebenso wie u.a. die Collagen der Dadaisten aus einem auch durch Zufall generierten Selektionsprozess hervor. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts sind es dann vor allem Konzeptkünstler wie etwa JOSEPH KOSUTH oder CLEGG&GUTTMANN, denen es beispielsweise bei der Ausstellung von Büchern darauf ankommt, bereits den elementaren Akt deren Auswahl als eine persönliche Ausdrucksmöglichkeit und somit als konstitutives Moment jeder künstlerischen Arbeit zu behaupten.

Vor allem aber konzentriert sich die Konzeptkunst auf das "Durchdenken sämtlicher Implikationen des Begriffs Kunst" (KOSUTH). Gelingt es ihr, diesen selbst zu bestimmen, gibt nicht länger die feuilletonistische oder wissenschaftliche Kunstkritik den Ausschlag, ob etwas tatsächlich als Kunst zur Geltung kommt oder nicht. So wird endlich das mit der modernen Kunst einhergehende andauernde Streben nach Autonomie nicht mehr dadurch konterkariert, dass über die Qualität von Kunstobjekten und die Anerkennung von Kunstschaffenden letztlich kunstexterne Instanzen bestimmen. Derartige Anstrengungen der damaligen konzeptuellen Kunstpraktiken zur Steigerung der Kunstautonomie waren künstlerisch und theoretisch zwar durchaus folgenreich: Nicht wenige nachkommende Künstler haben diese Ansätze aufgegriffen und etwa mit partizipatorischen oder institutionenkritischen Strategien weiter entwickelt. Aber diese an sich progressiven und durchaus auch politisch ambitionierten Aktivitäten haben zumeist nur als symbolische Gesten gewirkt und sind nicht selten auch zum Alibi für ein institutionell letztlich erstarrtes Kunstsystem geworden. Jedenfalls sind alle tatsächlich enthierarchisierend und auf Parität ausgerichteten künstlerischen Bestrebungen bisher weitgehend ohne Einfluss auf die den Kunstbetrieb beherrschenden Selektionsmechanismen geblieben, denen Künstler und ihre Werke sich zu unterwerfen haben, um anerkannt zu werden.

Absolute Entscheidungsgewalt ? Das geht doch gar nicht.

Nach wie vor werden von öffentlichen wie privaten Instanzen auf weitgehend unkontrollierte und unlegitimierte Weise Jurys und Kuratoren ermächtigt, wie Richter über die Qualität von Werken und das Wohl und Wehe von Bewerbern zu entscheiden. Dabei operieren diese Kunstrichter ohne Gesetze und können urteilen, ohne ihre Sachargumente und/oder individuellen Vorlieben, Erfahrungen, Kriterien oder eben (auch) persönlichen Interessen offenlegen zu müssen. Zudem ist es üblich, dass Meinungsbildung und Urteilsfindung ohne eine verbindliche Verfahrensordnung erfolgen und somit keine Mindeststandards für einen qualifizierten Umgang mit den Werken und ihren Urhebern zu berücksichtigen sind. Schließlich haben die Kunstrichter ihre Urteile weder zu begründen noch vor einer höheren Instanz zu verantworten.

Diese richterliche Allmacht bedeutet umgekehrt für die Bewerber, dass es keinerlei Möglichkeiten gibt, derartige Urteile durch Einlegung von Rechtsmitteln überprüfen oder gar revidieren zu lassen. Genau so wenig können sie einfordern, dass ihnen Gehör und eine adäquate Beteiligung an dem Verfahren gewährt wird, so dass sie darin bloß als Objekte, aber nicht als Subjekte vorkommen. Fatalerweise ist es für solche Selektionsprozesse generell kennzeichnend, dass das an sich jedermann zustehende originäre Grundrecht, überhaupt Rechte zu haben, einfach missachtet und/oder irgendwie umgangen wird. Die Entscheidungen über die Berücksichtigung von künstlerischen Leistungen bei Fördervergaben und Ausstellungsteilnahmen werden so in aller Selbstherrlichkeit getroffen. Aber wofür sollte es gut sein, dass Kunstrichter noch extremer als Sport-Schiedsrichter in einem rechtsfreien Raum der sog. Tatsachenentscheidungen agieren können?

Auch wenn die üblicherweise von Juroren und Kuratoren praktizierten Auswahlverfahren strukturell völlig inakzeptabel sind, muss das nicht zwangsläufig auch für alle dabei zustande gekommenen Ergebnisse gelten. Dass es immer Fehlurteile geben kann, ist nicht das entscheidende Problem. Dieses besteht vielmehr darin, auf welche fatale Weise es zu den Urteilen kommt. Der eklatante Mangel jener aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Selektionsverfahren besteht darin, dass immer weniger noch Kontroversen um künstlerische Überzeugungen, intellektuelle Haltungen oder persönliche Weltanschauungen ausgetragen werden und auf der Suche nach qualitativen Kriterien den Ausschlag für eine Beurteilung geben. Gehörte das Vorkommen solcher Glücksfälle schon in vergangenen Zeiten zur absoluten Ausnahme, so geht deren Wahrscheinlichkeit heute im Zeichen der unbestreitbar auch das Kunstsystem beherrschenden totalitären Ideologie der Ökonomisierung weiter gegen Null.

Verdammt zum Untergang ? Es steht viel auf dem Spiel.

Es gehört inzwischen nämlich nicht mehr zu den konstitutiven Merkmalen der ausdifferenzierten bürgerlichen Demokratien, dass sich ein auf die Maximierung der Erträge gerichtetes Handeln primär auf das System der Wirtschaft beschränkt. Vielmehr ist das kapitalistische Konzept von ökonomischer Effizienz nicht nur durch Deregulierung radikalisiert, sondern überdies auch in dem Sinne globalisiert worden, dass es die Kunst wie alle übrigen gesellschaftlichen Teilbereiche dominiert. Dass auch am Kunstsystem allein noch von Interesse ist, ob sich damit ein messbarer materieller Geld- oder symbolischer Geltungsgewinn erzielen lässt, entzieht -unabhängig von den gerade agierenden Personen- ganz zwangsläufig jeglichen fachspezifischen Diskursen den Boden. Da nicht mehr nach Qualitätskriterien, sondern nach Erfolgsaussichten entschieden wird, hat sich die einstige Funktion der Juroren und Kuratoren als sog. Gatekeeper, die für einen gewissen qualitativen Standard eines schöpferischen Metiers bürgen, längst erledigt.

Infolge ihres ökonomistisch verkürzten Zweck- und Prestigedenken neigen Juroren und Kuratoren ohnehin zur Vermeidung jeder Diskussion über Kriterien und votieren einfach. Kommt es indes zu Interessenkonflikten, dienen die Argumentationsversuche bloß der nachträglichen Rationalisierung der von persönlichen Ambitionen geprägten Vormeinungen. Dass es auch im Kunstbetrieb keine lebendige Kultur der intensiven und kontroversen Meinungsbildung gibt, wird überdies verhindert durch den verbreiteten Hang zur bedenkenlosen Personalisierung aller Sachthemen. Dazu trägt die wachsende Beeinflussung vieler Entscheidungsträger durch die Zugehörigkeit zu den allzu euphemistisch "Netzwerke" genannten Gefälligkeits- und Abhängigkeitsbeziehungen erheblich bei.

Solcherart "Menschlich-Allzumenschliches" (F. Nietzsche) ist zwar ein zweifellos ewig währendes Übel. Aber wenn das Ausleben des Egoismus statt möglichst unterdrückt, heute zum gesellschaftlichen Ideal einer "wild gewordenen Selbsterhaltung" (J. Habermas) erhoben wird und zu einer gnadenlos materialistisch fixierten Korrumpiertheit führt, werden die das System der Kunst betreffenden Selektionen immer weniger nach solchen aus den ihrer eigenen Logik und Kultur entstammenden Regeln, Kenntnissen und Werten getroffen. Doch wenn die Grenzen eines Systems sich nicht länger durch substantielle Unterscheidungen zu seiner Umwelt mehr aufrechterhalten bleiben, entdifferenziert es sich und verliert seine Identität. Vom ökonomischen Kalkül regiert, prosperiert die Kunst heute zwar wirtschaftlich wie selten zuvor, aber wegen ihrer Ununterscheidbarkeit droht sie "unmerklich in den Alltag aus[zu]laufen und [zu] versickern" (LUHMANN). Was aufgrund ihrer Eigenarten die Kunst als Wertvorstellung wesentlich ausmacht, kann - auch wenn es diesen Begriff immer noch geben mag- allmählich verschwinden oder bereits verloren gegangen sein. #1

II )

DIE AUFGABE: Do it YOURSELF - Die "Artgenda" als sich selbst organisierender Auswahlprozess

Derart grundsätzlich und systemtheoretisch gedacht, handelt es sich beim Autonomieanspruch für die Kunst keinesfalls um ein bloßes Relikt der aufklärerischen Moderne von lediglich nostalgischem oder symbolischem Wert. Vielmehr kommt einer nicht als Autarkie, sondern als Selbstgesetzgebung verstandenen Autonomie eine substantielle Funktion für den Fortbestand des Systems Kunst zu. Wie für die fatale Ökonomisierung des Kunstsystems letztlich dessen Protagonisten selbst die Verantwortung tragen, so kann auch die Wiedergewinnung des existentiell erforderlichen Grades an Kunstautonomie allein von der Eigengesellschaft der Kunst ausgehen. Dazu reicht es bei weitem nicht aus, sich mit einer längst überfälligen Modernisierung des Jurierungs(un)wesens zu begnügen. Vielmehr ist darüber hinaus die radikale Reformierung aller herrschenden Selektionsmechanismen im Kunstsystem als eine auch politisch wirksame künstlerische Aufgabe anzugehen. Als primäres Ziel geht es dabei nicht um die Erzielung vermeintlich besserer Auswahlentscheidungen, sondern um die Verbesserung der Selektionsverfahren, so dass alle Beteiligten ideell profitieren können, statt nur wenige lediglich finanziell. Oder anders gewendet: Wenn letztlich Aufmerksamkeit vergeben wird, sollte dies bereits und vor allem im Auswahlprozess beginnen und für alle Beteiligten erlebbar werden.

Diese trotz ihrer eminenten Bedeutung zwischenzeitlich nahezu aufgegebene, aber umso mehr als Herausforderung weiterhin bestehende Aufgabenstellung gerät endlich wieder in den Blick durch einen besonderen äußeren Anlass. Der ist in Zeiten einer von Nullen gesteuerten Aufmerksamkeit für Kulturelles gegeben durch den nach gut 10 Jahren allemal fälligen Rückblick auf die 2002 in Hamburg einen Tag vor der documenta 11 eröffnete ARTGENDA. Denn diese mit Unterstützung durch die Hamburger Kulturbehörde von einer repräsentativ gemeinten Leistungsschau zu einem Kunstfestival umfunktionierte Veranstaltung hat auch dank des Engagements der Behördenvertreterin A. Mittelberg hernach besonders mit der Entwicklung und Erprobung einer Alternative zu den üblichen Selektionsverfahren überrascht. Die "für junge KünstlerInnen aller Sparten aus dem Ostseeraum" ausgeschriebene 4. Biennale wäre wahrscheinlich sonst zu einer bestenfalls dem Standort Hamburg dienlichen, recht biederen und kaum weiter bemerkenswerten Veranstaltung geraten.

Die bei der ARTGENDA dann unternommenen Anstrengungen haben sich auf die Praktizierung eines Gegenmodells zum traditionellen Kuratieren gerichtet. Denn dieses aus den Salons des 19. Jahrhunderts überkommene Ritual hat eine geradezu strategische Bedeutung im Kunstgeschehen, da von ihm allein die Entscheidung über die durch öffentliche Präsentation zu erzielende Aufmerksamkeit für die Kunstprodukte abhängt, während die Juroren eher über die den Kunstproduzenten zuteil werdende Aufmerksamkeit entscheiden. So ist denn auch der für das Kunstfestival gewählte Titel "Paten&Projekte" eben nicht als ein mehr oder minder interessantes Ausstellungsthema aufgefasst worden und hat keineswegs als kuratorisches Kriterium für die eigenmächtige oder auftragsgemäße Auswahl irgendwie dazu passend erscheinender Kunstobjekte gedient. Vielmehr ist zur Durchführung dieses Kunstprojekts die kommunikative Bildung einer speziellen Infrastruktur als einer Art kollegialem Rekrutierungsinstrument intendiert worden, wodurch auch dem evolutionären Charakter kultureller Prozesse besser entsprochen werden sollte. #2

Selbstorganisation als Alternative ? Irgendwann geht es eben nicht mehr anders.

Anders als der neo-strukturalistisch ideologisierte Zeitgeist es bevorzugt, haben die Initiatoren und Organisatoren des Festivals es nicht dabei belassen, lediglich den Diskurs über die Selektionsproblematik in der Kunst zu verändern. Vielmehr haben sie mit ihrem experimentellen Ansatz gezielt die Veränderung der Strukturen von Selektionsmechanismen in Angriff genommen. Die Erkenntnis, dass es an der Zeit sei faktisch zu handeln, lässt sich auch als Reaktion auf die bereits im Vorfeld der ARTGENDA beginnende Debatte um das Programm der "Agenda 2010" des dann ab 2003 regierenden rot-grünen Bundeskanzlers G. Schröder interpretieren. Die auf die Globalisierung einerseits reagierende und andererseits weiter forcierende Kampagne, wollte mit einem gezielten Abbau gesetzlicher Regelungen sowie der umfangreichen Privatisierung staatlicher Einrichtungen und Verpflichtungen eine drastische Deregulierung erreichen. Die erklärte Absicht bestand darin, auf diese Weise eine bestmögliche Selbstorganisation und auch Expansion der Marktkräfte frei zu setzen.

Es lag auf der Hand, dass mit derartigen Maßnahmen nicht nur eine weitere Verschärfung der Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche, sondern durch den Triumph des Materialismus allemal auch eine weitere Existenzgefährdung der Kunst als ideeller Wertvorstellung verbunden war. Diese zunehmende Bedrohung provozierte geradezu das Vorhaben des Festivals, der immer freier werdenden Wirtschaft mit einem Befreiungsversuch der Kunst kritisch zu begegnen. Dabei hat die ARTGENDA als namensverwandtes Kontrastprogramm ebenfalls auf die unsichtbar wirkende Macht der Selbstorganisation gesetzt. Jedenfalls haben die drei für das Festival verantwortlichen Künstler (Jan Holtmann, Felix Kubin , Veit Sprenger) "mit dem sog. Matching einen sich selbst organisierenden kuratorischen Prozess" initiiert und erklärtermaßen gerade nicht als Kuratoren der Veranstaltung fungiert. Allerdings haben sie bei der Realisierung ihres Projekts von keinem bereits fertigen Konzept des "Matching" als Selektionsverfahren ausgehen können. Eben so wenig stellt ihr Projekt eine hinreichende oder gar abschließende Ausarbeitung dessen dar, wie "Matching" im Kunstbetrieb generell funktionieren könnte. Vielmehr ist das Ergebnis ihrer engagierten Umtriebigkeit eher mit einer Ansammlung erster genialischer Skizzen vergleichbar - in all ihrem Charme und der ihnen eigenen Unvollkommenheit.

Wie "Matching" sich bei diesem Projekt im Einzelnen konkretisiert hat, kann bestenfalls die Gesamtschau der Beiträge des vorliegenden Bandes beantworten. In seiner allgemeinsten Bedeutung bezeichnet dieser relationale Begriff jedenfalls die Herstellung und/oder das Bestehen einer "Passung"; beispielsweise wird damit etwa bei Partnervermittlungen ein Abgleich gemeinsamer Interessen von Klienten oder beim Marketing die Anpassung eines Produkts an Kundenwünsche benannt. In Bezug auf die ARTGENDA lässt sich zusammengefasst aber immerhin so viel sagen, dass die Auswahl des Teilnehmerkreises an dem Projekt durch ebendieses "Matching" erfolgt ist und dass niemand anders als die Beteiligten selbst über die jeweils zustande gekommenen Passungen und das, was sich daraus künstlerisch ergeben hat, bestimmt haben.

Einem rhizomatischen Geflecht von "Wahlverwandtschaften" vergleichbar, kann kein Zweifel daran bestehen, dass das überaus komplexe Projekt von den Künstlern selbst organisiert wurde und dies trotz oder gerade wegen der dabei möglichen großen Spontaneität und den vielen Zufälligkeiten auf eine Weise geschehen ist, dass es zur Entfaltung sich selbst organisierender kommunikativer Prozesse kommen konnte ohne dass eine kuratorische Steuerung von außen und von oben eingriff.

Zunehmende Demokratisierung ? Schön wäre es.

Sowohl aufgrund der besonderen Qualitäten der ARTGENDA als auch wegen der generellen Wichtigkeit, Alternativen zu den überkommenen Selektionsverfahren in der Kunst zu entwickeln, wäre es äußerst fatal, wenn die ARTGENDA ein nur unter einmaligen Voraussetzungen möglicher Einzel- und Sonderfall bliebe. Denn nicht zuletzt die unter dem Begriff der "Liquid Democracy" neuerdings laufenden auch parteipolitischen Aktivitäten und Diskussionen signalisieren inmitten des allseitigen selbstsüchtigen Begehrens nach möglichst unkontrollierter Machtausübung die unabweisbare Notwendigkeit, dass das bekannte Motto "mehr Demokratie wagen" endlich wieder auf die aktuelle Agenda gehört. Insofern ist die Weiterentwicklung von demokratischen Aus-Wahl-Prozessen keinesfalls eine spezielle Aufgabe für den Kunstbereich. Aber hier kann der prädestinierte Ort für vielfältige exemplarische Feldversuche sein, wodurch eine überwiegend zum "Besserverdiener"-Dekor sich hergebende zeitgenössische Kunst eine progressive gesellschaftliche Funktion bekommen könnte. #3

Zwar gelten auch die sich letztlich in Willkürakten vollziehenden Selektionen durch Juroren und Kuratoren als allemal demokratisch legitimiert, sofern etwa von untergeordneten Behörden oder anderen Institutionen demokratisch gewählter Regierungen diese Personen eingesetzt werden und auftragsgemäß handeln. Das entspricht dem herrschenden sog. monistischen Demokratieverständnis, dem zufolge von einer je einmaligen demokratischen Mehrheitsentscheidung (des zur Einheit stilisierten Staatsvolkes) Befugnisse für alle möglichen anderen Entscheidungen einfach abgeleitet werden. Aufgrund dieser Auffassung gilt es gleichsam automatisch auch als demokratisch legitimiert, wenn etwa staatliche Stellen die zu ihrer Beratung benötigten oder zu ihrer Kontrolle vorgesehenen Organe, die eigentlich "unabhängig" sein sollen, doch letztlich selbst bestellen. Werden solche dem ersten Blick oft entzogenen karussellartigen Verfahrensweisen dann noch dereguliert und relativ informell gehandhabt (wie etwa auch und gerade im Kulturbereich), so kann sich inmitten eigentlich rechtsstaatlich verfasster Demokratien ein schleichender Übergang zu feudalistisch-anarchistischen Strukturen etablieren - übrigens nicht selten auch Einfallstore der Korruption

Es lässt sich trefflich spekulieren, warum diese monistische Demokratieauffassung sich seit den Anfangsjahren der Bundesrepublik in verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen als herrschende Meinung gegen einen pluralistisch erweiterten Demokratiebegriff durchgesetzt hat. Jedenfalls ist fast in Vergessenheit geraten, dass es im Rahmen unserer Verfassung ebenso möglich ist, Demokratie nicht nur als bloße staatliche Organisationsform, sondern als eine "Lebensform, ein(en) notwendig unabgeschlossene(n) Prozess der Demokratisierung aller Lebensbereiche (zu) verstehen, der die Mündigkeit und Selbstbestimmung jedes Einzelnen zum Ziel hat." #4 Die Überwindung des monistisch verkürzten, rein formalen Demokratieverständnisses kann gelingen, wenn das Volk als eine "Vielheit von Betroffenen" betrachtet wird, "deren Beteiligung (in verschiedenen Arten der Kooperation: von Anhörung bis Mitwirkung)"* zu ermöglichen ist. Dies macht erforderlich, dass statt der einmaligen, einsamen und endgültigen mehrheitlichen Willensentscheidung nun die zuvor in den gesellschaftlichen Gruppen und Subsystemen zu organisierende gemeinsame Willensbildung ins Zentrum der Demokratisierungversuche rückt.

Unvermeidbarer Relativismus ? Dann erst recht.

Nach dieser sozusagen radikaldemokratischen, zur Idee des "Matching" passenden Auffassung sollte in jedem gesellschaftlichen Segment es den jeweils Betroffenen obliegen, ihre Geschicke selbst zu bestimmen und dafür einen demokratischen Modus zu finden. Insofern es etwa wie beim "Matching" um künstlerische Belange geht, käme niemand anders als allein untereinander gleichberechtigten Künstlern die Entscheidung zu, ob und ggf. wie Selektionen unter ihnen erfolgen sollen. Damit entsteht aber sofort die Schwierigkeit, welche von allen möglichen Künstlern denn darüber entscheiden können und wollen. Dieses Dilemma macht klar, dass auch jedem noch so demokratisch intendierten Selektionsprozess bereits eine erste nicht wählbare Wahl, d.h. eine nicht disponible Selektion voran gehen muss. Es kann praktisch keinen voraussetzungslosen d.h. absoluten Anfangspunkt einer Selektion geben (genau so wenig wie etwa den der Philosophie oder der Reflexion), sondern es bedarf stets mindestens einer gewissermaßen initiativen Vorentscheidung (sei es durch bestimmte Setzungen oder Konstellationen), welche weitere Selektionen überhaupt möglich macht.

Diese gleichsam natürliche, unaufhebbare Unfreiheit kann entweder als hoffnungslose Relativierung aller radikaldemokratischen Ambitionen entmutigen. Oder aber Reflexion und Akzeptanz der unvermeidlich notwendigen Vorentscheidung motivieren dazu, zumindest über den Modus der nachfolgenden für erforderlich gehaltenen Selektionen umso bewusster selbst bestimmen zu wollen; schließlich könnte dabei sogar die an sich nicht wählbare Vorwahl noch revidier- oder zumindest kompensierbar werden, was eine Art hyperdemokratischer Steigerung des Verfahrens bedeuten würde. Auf jeden Fall kommt man faktisch nicht umhin - wie auch bei der ARTGENDA - die rätselhafte Rechtmäßigkeit der ersten Selektion gleichsam pragmatisch zu übergehen, was hier gewissermaßen durch die concept-conference und die messengers geschehen ist. Erst danach kann sich für alle, die sich wie und warum auch immer an einem kuratorenlosen /juryfreien Kunstprojekt beteiligen wollen, die Aufgabe stellen, die Prozesse demokratischer Willensbildung für sämtliche anstehenden Selektionsentscheidungen zu konzipieren und ggf. zu organisieren.

Matching als Modell ? Das ist schon mal ein Anfang...

Um dabei die von der ARTGENDA geleistete Vorarbeit aufzugreifen gilt es, den viel versprechenden, dabei als Suchwort fungierenden Begriff des "Matching" zu präzisieren und zu konkretisieren. Um in künftigen künstlerischen Forschungsprojekten gezielt Settings künstlerischer Selbstbeteiligung und Selbstorganisation entwickeln zu können, wäre es wichtig, für die jeweiligen Projektformate detaillierte Regularien auszuformulieren. Eine umfassende Fixierung des mutmaßlichen Verlaufs von Selektionsprozessen ist vor allem erforderlich, um eine adäquate organisatorische Umsetzung des angestrebten Selektionsverfahrens überhaupt leisten zu können. Darüber hinaus bedarf es einer genauen Aufzeichnung aller Regeln, um aufgrund eigener oder durch Supervision gewonnener Erfahrungen dann für wünschenswert gehaltene Modifikationen vornehmen zu können. Schließlich verlangt es das Gebot der Transparenz, die Regelwerke des "Matching" leicht nachvollziehbar zu machen, um die Legitimität der Selektionsverfahren wie deren Akzeptanz bei den Beteiligten zu fundieren.

Zwar mögen Ausformulierung und Erprobung solcher Regel-"Werke" wie die Realisierung einer "Matching"-Methode zunächst recht konzeptionell und formalistisch erscheinen. Aber um eine Alternative zu den entdemokratisierten und kommerzialisierten institutionellen Rahmenbedingungen von Kunst und Gesellschaft zu schaffen, sind derartige Anstrengungen keinesfalls als bürokratische Pflichtübungen, sondern vielmehr als fundamentaler Aspekt einer kooperativen künstlerischen Praxis zu begreifen. Denn es wäre antiquiert, Kunst weiterhin nur durch die Hervorbringung ästhetischer Objekte zu definieren und das hier geforderte ästhetische Denken in Form offener, fachlicher und fairer Diskurse über Wert-und Qualitätsvorstellungen in der Kunst davon auszuschließen. Statt die Selektionsentscheidungen von ökonomisch vorprogrammierten Instanzen abhängig zu machen, würden sie durch die Selbstauswahl von Künstlern getroffen werden, was wohl letztlich für das einzig legitime, wirklich akzeptable und wahrscheinlich auch verlässlichste Verfahren zu halten ist. "Entweder das Bewusstsein setzt sich doch noch durch, baut sich seinen Naturschutzpark namens Freiheit und Selbstbestimmung für alle, also die einzige Umwelt, die es am Leben halten kann, oder aber... das Bewusstsein vergeht - entweder also, wir oder unsere Nachkommen werden frei und glücklich, oder das Denkvermögen, mit dem wir sagen können, dass wir unfrei und unglücklich sind, verschwindet."

Aus dem Roman "Dirac" von D. Dath

ANMERKUNGEN:

1 Zur Analyse und Kritik des Jurierens/Kuratierens als Selektionsinstrumente im Kunstsystem u.a.:

=> Lingner, Michael: Analyse der Preisgabe künstlerischer Autonomie und eine Perspektive ihrer Wiedergewinnung

Zur Verantwortbarkeit von Eingriffen in die kulturelle Evolution am Beispiel der Kunstförderung. Ein demokratisiertes Jury-Modell.

In: Elm, Ralf (Hg.): "Kunst im Abseits?". Schriftenreihe der Universität Dortmund, projekt-verlag, 2004 | ISBN: 3-89733-092-X

=> http://ask23.hfbk-hamburg.de/draft/archiv//ml_publikationen/kt04-1.html

Zur Analyse und Kritik der Ökonomisierung im Kunstsystem u.a.:

=> Lingner, Michael: Freie Kunst oder Freiheits-Dekor?

In: "frame", Erstausgabe / Jan./Feb. 2000"

=> http://ask23.hfbk-hamburg.de/draft/archiv//ml_publikationen/kt00-1.html

2 Einer der wenigen anderen Versuche zur Praktizierung der Selbstauswahl für eine Ausstellung vgl.:

=> Lingner, Michael (Hg.): Romanticism Revisited #1 Kuratorisches Konzept und seine Umsetzung. Aus Michael Lingners nachträglich redigierten Unterlagen für die KünstlerInnen

In: Lingner, Michael (Hg.): "Romanticism Revisited #1. Stationen der Ausstellung Runge Heute: Konstruierte Empfindung - Beobachtbare Zeit". Textem, Hamburg, 2011 | ISBN: 978-3-941613-55-3

=> http://ask23.hfbk-hamburg.de/draft/archiv//ml_publikationen/kt_h-a_11e.html

3 AG Alternative Auswahlverfahren: Selektion im Kunstsystem = The Winner takes it all? 7 Postulate für eine reformierte Förderungsvergabe

In: Lerchenfeld #18 Januar/Februar 2013. HfbK Hamburg. S. 27-28

=> http://ask23.hfbk-hamburg.de/cgi-bin/wiki/wiki-ask23.pl?SeminarMaterialienKunstsoziologieso12

Ansätze zur Reformierung der Jury als Selektionsorgan u.a.:

=> Arbeitsgemeinschaft Jury: Jury

In: Freie Hamburger Kunstinitiativen und Ausstellungsräume (Hg.): "Wir sind Woanders #2 / We are Somewhere Else #2". Textem, Hamburg, 2010 | ISBN: 978-3-938801-70-3

=> http://ask23.hfbk-hamburg.de/draft/archiv//ml_publikationen/kt10-2.html

=> Lingner, Michael: Zur Vorgeschichte der Reaktionen von Wolfgang Ullrich, Wolfgang Kasprzik und Jan Holtmann auf die Überlegungen von Michael Lingner

In: Elm, Ralf (Hg.): "Kunst im Abseits?". Schriftenreihe der Universität Dortmund, projekt-verlag, 2004 | ISBN: 3-89733-092-X

=> Original Message -7- From: "michael lingner" To: "Wolfgang Ullrich"

http://ask23.hfbk-hamburg.de/draft/archiv//ml_publikationen/kt04-1_m.html

4 H. Häuser: Mehr Demokratie wagen.

In: Neue Richtervereinigung 71. Rundbrief vom Mai 2002, S. 4

An sich ist es unglaublich, dass als aufgeklärt geltende Gesellschaften die Evolution ihrer Kultur diesem traurigen Schicksal überlassen. Ebenso wie der Umstand, dass die Künstelrschaft das mitmacht...


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